Menschliche Verhaltenskontrolle in virtuellen Welten

Die Erweiterung der Realität durch digitale Welten – von Augmented Reality (AR) bis Virtual Reality (VR) – gewinnt im Zuge der digitalen Transformation zunehmende Bedeutung und bietet neue Lernmöglichkeiten in zahlreichen Anwendungsbereichen. Der Einsatz von VR-Trainingstools verspricht insbesondere dann einen grossen Mehrwert, wenn ein wiederholt-extensives Sammeln von Erfahrungen in Situationen ermöglicht wird, welche in der tatsächlichen Welt mit hohen Kosten oder Risiken verbunden wären. Im fachspezifischen Kontext eröffnen sich solche Chancen beispielsweise im psychologischen Kontext durch den Einsatz von VR in psychotherapeutischen Konfrontations- oder Desensibilisierungstherapien, im Sport durch VR-Simulationen zur Vorbereitung auf den nächsten Gegner und in der medizinischen Ausbildung durch die Nachbildung von komplexen Notfallszenarien in VR-Simulationen.  Diesen Anwendungsbeispielen ist gemein, dass der – in der Regel aufwändige – Einsatz von VR-Technologien umso lohnender erscheint, je höher der Transfer von der im virtuellen Raum gemachten Erfahrungen auf die Handlungskompetenz in der realen Welt ausfällt. Die Bedingungen für einen maximalen Transfer sind jedoch bisher weitgehend unbekannt. Um die Potenziale von VR optimal zu nutzen, ist ein vertieftes, problembezogenes Verständnis der sensomotorischen Mechanismen, die einen Transfer begrenzen können, von zentraler Bedeutung.

Im MidT-Profilierungsprojekt „Menschliche Verhaltenskontrolle in virtuellen Welten“ werden VR-Transfermechanismen in einer Reihe von experimentellen Studien am Institut für Psychologie (IfP, Leitung: Prof. Dr. Matthias Ertl) und am Institut für Sportwissenschaft (ISPW, Leitung: Dr. Stephan Zahno) systematisch untersucht. Aufbauend auf den grundlagenorientierten Studien sind interdisziplinär-integrative Translationsstudien mit assoziierten Projektpartner aus der Notfallmedizin (Visel, Leitung: Prof. Dr. Thomas Sauter) geplant.

Am ISPW haben wir zur Untersuchung der VR-Transfermechanismen eine VR-Gangkoordinationsaufgabe entwickelt (Abb. 1). In dieser vom Tango Argentino inspirierten Experimentalaufgabe übernimmt die Versuchsperson die Rolle des „Followers“ und hat die Aufgabe, Vorwärts- und Rückwärtsschritte mit einem – virtuell oder physisch präsenten – „Leader“ zu koordinieren. Als Mass für die Koordination vergleichen wir die zeitlichen Differenzen zwischen den Peaks der Geschwindigkeits- und Beschleunigungskurven von Leader und Follower (Abb. 2). Diese Aufgabe ermöglicht es uns, zu untersuchen, wie Versuchspersonen unterschiedliche sensorische Informationen (visuell, auditiv, haptisch) in der interpersonalen Koordination nutzen und wie sich dies auf das Lernen in VR und den Transfer auswirkt.

Am IfP untersuchen wir grundlegende Wahrnehmungsmechanismen in virtuellen Umgebungen, die sich von denen in der realen Welt unterscheiden. Der Fokus liegt dabei auf der Tiefenwahrnehmung, die einen Einfluss auf den Lerntransfer von zielgerichteten Bewegungen haben könnte. Durch die Konstruktion von handelsüblichen Head-Mounted Displays (HMDs) ist das natürliche Zusammenspiel von Akkommodation und Vergenz entkoppelt. Anders als in der realen Welt fokussieren die Augen in VR konstant auf ein virtuelles Display (Akkommodation), während sich lediglich die Winkelstellung der Augen (Vergenz) an die wahrgenommene Entfernung zum Objekt anpasst, basierend auf künstlich erzeugten disparaten Bildinformationen. Diese Unterschiede zwischen der virtuellen und der realen Welt könnten die beabsichtigte Übertragung des Gelernten beeinträchtigen, was wir anhand von motorischen Aufgaben experimentell untersuchen.

Kontakt

Dr. Stephan Zahno (Institut für Sportwissenschaft)

Prof. Dr. Matthias Ertl (Institut für Psychologie)

Das Forschungsprojekt wird unterstützt durch die Digitalisierungskommission der Universität Bern (DigiK).